PRESSE & TEXTE (AUSWAHL)

 
 

GLASIERTER AUGENBLICK; REZENSION ZUM BUCH raz

NZZ, 1. März 2012


Das Medium der Fotografie sei «ohne Zukunft», hat Roland Barthes in seinem berühmten letzten Buch, «Die helle Kammer», über analoges Fotografieren festgehalten, sie strebe nicht, wie der Film, nach vorn, sondern jeder Druck auf den Auslöser tendiere dazu, das von der Linse Gesehene für immer im Zustand seines So-Seins einzufrieren. In der Fotografie zeige sich «die Stilllegung der Zeit nur in einer masslosen, monströsen Weise», weshalb Barthes das Medium mit Melancholie und Tod in Verbindung bringt. Beim Betrachten des gemeinsamen Buchprojekts «Raz» der Bündner Lyrikerin Leta Semadeni und des Luzerner Fotografen Paul Lussi nun fühlt man sich sofort an Barthes' Worte erinnert. Denn beide Kunstschaffenden scheinen ihre Wahrnehmungen eines Moments durch ihre je eigenen Fixationstechniken – im Enjambement der Zeilen wie auch in der Blackbox des Computerprogramms, mit dem Lussi Figuren in seine zivilisationsmüden Nicht-Orte zaubert – festhalten zu wollen. Das romanische Wort «Raz» bedeutet Strahl und lässt dabei die Lichtsäule anklingen, in der sich die Dinge einem wahrnehmenden, verzeichnenden Subjekt in ihrer ganzen präsentischen Fülle zeigen; doch man kann damit auch den Bannstrahl assoziieren, mit dem die beiden schweifenden Kunstschaffenden den sogleich für immer vergangenen Augenblick in seiner Qualität zu glasieren suchen.

 

ZUR AUSSTELLUNG "FÜNF STUFEN IN DIE TIEFE", GALERIE KRIENS

Obwalden und Nidwalden Zeitung, 26. Oktober 2011. Text: Otto Odermatt.


Gemalte Geisterstadt und totes Holz

Der Künstler Paul Lussi zeigt in der Galerie Kriens Bilder, Skulpturen aus Schwemmholz und Fotografien. Für die Frauen der Malergruppe «Der blaue Reiter» hat er ein Denkmal aus Schwemmholz gemacht.

Die neueste Ausstellung von Paul Lussi in der Galerie in Kriens heisst «Fünf Stufen in die Tiefe». Fünf Stufen in die Tiefe führen in die Galerie an der Schachenstrasse 9 in Kriens. Der Künstler jedoch möchte, dass der Besucher nicht nur die fünf Stufen in die Galerie hinuntergeht, sondern dass er sich mit dem tieferen Sinn seiner Werke auseinandersetzt.


Geisterstadt Varoscha

Das fünf Meter lange Bild «Mondnacht» ist ein typisches Paul-Lussi-Bild. Dunkel, düster und überaus geheimnisvoll gibt das Mondlicht unzählige kleine Formen und Gestalten preis. Man muss nahe ans Bild treten und sich wieder von ihm entfernen, um es ganz zu erfassen, um sich in die Stimmung der Mondnacht von Varoscha zu begeben. Varoscha liegt auf der Insel Zypern und war ein blühendes touristisches Zentrum, das 1974 vom türkischen Militär besetzt wurde. Die Stadt wurde mit einem hohen Zaun eingesperrt. Niemand durfte die Stadt betreten. Sie wurde zu einer Geisterstadt, zu einer Stadt des Todes, zu einem mächtigen Mahnmal aller Kriege, die schon immer sinnlos waren. Die Ausstrahlung dieser Stadt, die die Betrachterin und den Betrachter an Lussis legendären Geisterwohnwagen erinnert, war Anlass für den Künstler, das Bild «Mondnacht» zu realisieren. In der Mitte des Bildes steht eine Gestalt. Sie schlägt sich mit der rechten Hand kräftig auf die Stirn als ob sie sich sagen möchte: «Isch das Chrischtä-Mänsche-meglich.» Auf die Frage, wie ein solches Bild entstehe, meint Paul Lussi: «Das Spannende an meinem Arbeiten ist für mich, wenn auf der Leinwand ein Bild entsteht, von dem ich selber überrascht werde.» Und das Spannende für den Betrachter des Bildes ist wohl, dass zwischen ihm und dem Bild etwas passiert, das ihn nicht so schnell wieder loslässt, das ihn beschäftigt, das Fragen aufwirft über Tod und den Sinn des Lebens. Da und dort leuchtet es gelb und blau im Mondlicht und lässt auf neues Leben hoffen.


Mit Augenmass

Im gleichen Raum befindet sich die aus Schwemmholz gestaltete Installation «Zur Decke streben». Behände klettert ein Mensch auf der Leiter zur Decke hoch. «Er wird oben den Kopf anschlagen», meint Lussi und lacht. Ja, und er wird vielleicht sogar herunterfallen und unfähig sein, Entscheidungen zu treffen, die für ihn und die Umgebung gut sind. «Das Augenmass» ist ein fast zwei Meter langer Stecken, den Lussi mit Augen aus verschiedenen Illustrierten eingefasst hat. Die Augen sind mit dem Herz verbunden und sehen, messen und beurteilen besser als der Massstab. Lussi sammelt Schwemmholz, das man üblich verbrennt oder ganz einfach verfaulen lässt. Der Künstler sieht mit seinem Augenmass in dem bleichen ausgewaschenen Holz Tiere, Gebrauchsgegenstände und ganze Szenerien.


Denkmal aus Schwemmholz

Das Schwemmholz fasst der Künstler mit einem speziellen Verfahren in Farben und Bilder von Illustrierten. Es ist, als ob er mit diesen Farben und Bildern dem toten Holz Leben einhaucht. Es entstehen Gebilde wie «Anfacher», «Beisser», «Ins Garn gehen» oder «Kokette». Der Künstler hat mit 36 umgewandelten Schwemmhölzern eine Trophäenwand gestaltet, die die Besucherinnen und Besucher herausfordert in Zukunft Schwemmholz und anderes, was die heutige Gesellschaft wegwirft, mit Augenmass zu betrachten. Gegenüber der Trophäenwand sitzt stolz eine Frau auf einem Pferd. «Die blaue Reiterin» heisst das kleine Denkmal, das Lussi aus Schwemmholz für die Frauen errichtet hat, die bei der Malergruppe «Der blaue Reiter» mitmachten. «Man erinnert sich heute nur an die Männer wie Wassily Kandinsky und Franz Marc und die Frauen hat man vergessen. Mit der blauen Reiterin möchte ich an die Frauen erinnern, die Grossartiges in der Kunst leisteten», erklärt Lussi zum fragilen und doch überaus attraktiven Denkmal für die blauen Frauen.

 

ZUR AUSSTELLUNG "ZEITIGEN", NIDWALDNER MUSEUM

Text: Janine Schmutz


Paul Lussi ist bekannt für seine dichtgewobenen Bildgründe, die malerischen Intensitätszonen und die feinen, kaum entzifferbaren Zeichenwelten, aus denen sich erst bei näherer Betrachtung Figuren, Formen, Verläufe schälen - flüchtig auftauchend und zugleich wieder im zeichnerischen Dickicht verschwindend, so als wäre im Erschaffen, das Umarbeiten, Überlagern und Auslöschen bereits enthalten.


Dem 1952 in Stans geborenen und aufgewachsenen Künstler widmet das Nidwaldner Museum im Herbst 2010 eine Einzelausstellung (Salzmagazin). Sein zeichnerisches Oeuvre wird dabei durch neue installative Arbeiten und Fotografien ergänzt, die seit seinem Atelieraufenthalt in Berlin 2008 entstanden sind. Blickfang der neuen Ausstellung wird die 7,5 Meter lange Wandinstallation »Zeitigen« sein. In das imposante Werk – ein Mural – sind über hundert Skizzen sowie weitere Materialien eingeflossen, die im Verlauf der letzten Jahre entstanden sind bzw. bis zu den Ursprüngen von Lussis künstlerischem Schaffen zurückreichen. Das Werk wird zum künstlerischen Manifest, das die grundlegende Frage nach der Zeit, dem Wandel und der Vergänglichkeit stellt.
Auch die neusten Arbeiten – Fotografien – scheinen sich des Collagenhaften zu bedienen, ohne selbst wirklich Collage zu sein. Die einzelnen Aufnahmen sind vielmehr von Zeichnungen überlagert und erneut abfotografiert. Dabei rückt das Momenthafte eines Ortes, einer Zeit – in diesem Fall Berlin – in den Vordergrund.


Das Zeichenhafte, scheinbar schnell Festgehaltene, bleibt aber Basis von Lussis Schaffen, so auch wenn im Dachgeschoss weiss gekalkte Schwemmhölzer locker aneinandergereiht zu einer raumfüllenden Installation werden – eine dreidimensionale Hommage an die Zeichnung.

 

BUCH ZUR AUSSTELLUNG

mit Texten von Dr. phil. Franz Müller und lic. phil. Janine Schmutz; Verlag Martin Wallimann, 2010

 

LAUDATIO PREISTRÄGER SCHINDLER KULTURSTIFTUNG

Marianne Baltensperger, Kunsthistorikerin, Vize-Präsidentin Verband der Museen der Schweiz


Zu Beginn seiner künstlerischen Tägigkeit zeigte Paul Lussi 1979 an der Jahresausstellung der Innerschweizer Künstler im Kunstmuseum Luzern ein Ensemble von schwarzen, verwesten Mumienköpfen; eine Apokalypse menschlicher Existenz mit dem programmatischen Titel "Das letzte Manifest".
Das gesellschaftliche Engagement kennzeichnet sein gesamtes Werk, doch hat sich das Medium seiner künstlerischen Arbeiten geändert.


So zeigen auch die früheren wie auch die späteren Bilder von Lussi einen unangepassten und einen gänzlich unzeitgemässen Maler, und das meine ich im besten Sinne des Wortes, der sich in einer sensiblen, kaum dechiffrierbaren Zeichenwelt vergraben hat.
Keineswegs eignen sich die Bilder von Lussi zur Beschreibung der Welt, wie sie sich den meisten von uns vermeindlich darstellt. Phantastische Wesen, halb Tier halb Mensch, Kopolde aus Sagen und Märchen und Kreaturen, die an Motive von Hieronymus Bosch sowie Konstruktionen von Science Fiction Filmen erinnern, bevölkern die Bilder von Lussi.
Paul Lussi inszeniert in seinen Bildern eine Begegnung von Gegenwelten, die sich jedem logischen System entziehen. Die verschiedenen Realitätsebenen erscheinen nur als Ahnung; Figuren lösen sich aus der Verschleierung des Nebels.
Die Bildfläche stellt sich als eine Art von Intensitätszone dar, in dem die Figurationen irgendwo zwischen Auftauchen und Verschwinden eine flüchtige Gestalt annehmen und sich gleichsam jenen Raum schaffen, der ihrem fragilem Wesen entspricht.
Die künstlerische Umsetzung, das Sichtbare und das Unsichtbare zu verbinden ist die Überdeckung, die Übermalung, das Sediment. Manchmal so, dass wir das Verschwundene noch erahnen können. Diese zentrale bildnerische Idee könnte man als Kontamination des Zeigens und des Verbergens beschreiben; kein Bild ist frei von Akten der Löschung, der Überdeckung und der Negation.
Die Spur des Löschens gehört zum Charakter des Blattes. Die Leinwände sind Arbeitsflächen, sie tragen Spuren des Arbeitsprozesses. Der Auflösung von Grenzen entspricht auch die Technik. Die Malerei ist gezeichnet, die Zeichnung gemalt.
Die Unschärfe mancher Bilder ist keine mangelnde Präzision, vielmehr ist sie genuin in der Bildidee begründet. Die Strategie der Mehrdeutigkeit, der Prozess des freien Spiels von Verwerfen und Finden konstituiert das Bild in sich.
Überraschend gelingt Lussi immer wieder, Erfahrung und Wissen um die existenziellen Probleme aufzunehmen, zu reduzieren. Wissen und Naivität, Gefühl und Intellekt, Bewusstes und Schlummerndes vereinen sich im Werk von Lussi auf subtile Art und Weise.


Paul Lussi's Bilder vermögen somit immer wieder unsere Vorstellung der Welt und deren Normen zu unterwandern und zu hinterfragen: seine Arbeiten sind subversiv, das Einzige, was Kunst wirklich zu leisten vermag. Der polemisch-politische Werktitel von 1979 "Das politische Manifest" hat dem scheuen und trotzigen Motto "Und es regt sich doch was im Grau" von 1994 Platz gemacht.